Steve Rogers ist auch bekannt als „Captain America“, das Symbol für alles, was an den Vereinigten Staaten ehrbar und schillernd ist oder sein sollte. Doch seiner reinen Weste zum Trotz ist Steve insgeheim ein Doppelagent, ein Schläfer der rechtsextremen Terroristen von „Hydra“. Als der Moment gekommen ist, in dem Steve im Rahmen einer Krise zum Interims-Oberhaupt der USA ernannt wird, schnappt die von langer Hand vorbereitete Falle zu. Seine mächtigsten Verbündeten sperrt der Nazi-Captain kurzerhand mit einem riesigen Schutzschild in den Weltraum aus und errichtet gleich darauf sein finsteres, faschistisches Regime. Während einige seiner Helden-Freude mit ihm auf die Seite der scheinbaren Gewinner wechseln, formiert sich unter Natascha „Black Widow“ Romanoff der Widerstand gegen den Verräter.
Für deutsche Verhältnisse ist schwer nachvollziehbar, wie ein Superhelden-Comic in den Staaten derart hohe Wellen schlagen konnte. Im Windschatten der politischen Spaltung des Landes durch den frisch gewählten, rechtspopulistischen Präsidenten Donald Trump musste es aber zwangsläufig die Gemüter erhitzen, dass eine so symbolträchtige, ikonische Figur wie Captain America auf die auch in „Secret Empire“ unverkennbar dunkle Seite wechselte. Dabei lässt Autor Nick Spencer keinerlei Zweifel daran aufkommen, wer in diesem dystopischen Helden-Szenario der unbestreitbare Schurke ist. Im stattlichen Sammelband kann man nun das umstrittene Großereignis des Marvel-Verlags ganz ohne monatliche Unterbrechungen am Stück lesen.
„Secret Empire“ fühlt sich insbesondere angesichts der bedrückenden Grundstimmung und des vom italienischen „Old Man Logan“-Künstler Andrea Sorrentino klar dominierten Endzeitlooks sehr erwachsen und ernst an, lässt bunte und fröhliche Buddy-Momente ganz bewusst vermissen, um den Ernst der Lage zu unterstreichen. Grundsätzlich krankt das Event dabei an den üblichen Symptomen. Eine sehr große Anzahl an Chrakteren soll untergebracht und vorgestellt werden, um Leser bislang nur einiger Serien auf den Geschmack zu bringen und so ihre Gunst und Kauffreude zu erweitern. Dabei wirken neben den eigentlich wenigen für den Handlungsverlauf relevanten Figuren viele Gastauftritte erzwungen und unnötig. Autor Spencer ist es aber erfreulicher Weise gelungen, den erzählerischen Fokus stets auf seinem ambitioniertem, aber im Endeffekt nicht sonderlich komplexen Plot zu halten. Der „Marketing-Faktor“ in „Secret Empire“ ist also vorhanden, aber nicht so störend und aufdringlich wie Marvel-Leser es eigentlich von großen Crossovers gewohnt sind.
Die starken, intelligenten, künstlerisch überraschenden und aufregenden Geschichten sucht man im Haus der Ideen traditionell eher bei Einzelserien, bei bislang für die Kino-Verwertung irrelevanten Helden wie „Moon Knight“ oder „Miss Marvel“. Aber nach „Original Sin“ ist „Secret Empire“ ein weiterer Schritt in die richtige Richtung, um dem jährlichen Marvel-Großevent die Würde und Bedeutung zu verleihen, die es eigentlich verdient. Noch nicht so komplex, aufregend und wild wie es hätte sein können und dürfen, aber voller guter Ideen und Impulse.
SECRET EMPIRE
Autor: Nick Spencer
Künstler: Andrea Sorrentino, Steve McNiven, Rod Reis
412 Seiten
Softcover
38,00 Euro
Erschienen bei PANINI