Manche Geschichten schreibt das Leben noch immer unglaublicher, als jede erdachte Erzählung. Dies ist eine davon: Freiwillig in Ausschwitz? Sollte man sich freiwillig, um ein Terrorregime zu bekämpfen an den gefährlichsten Ort, das größte Menschenvernichtungslager der Historie der Menschheit begeben, um es von innen heraus zu zerstören?
Witold Pilecki, Codename Tomasz Serafiński, lässt sich 1940 nach Auschwitz einschleusen, um dort ein Untergrundnetzwerk im Konzentrationslager aufzubauen. Er soll Informationen aus dem vor wenigen Monate zuvor errichteten Lager nach draußen schmuggeln und die Gruppen zur gegenseitigen Unterstützung vernetzen. Aber vor allem soll der Aufbau der Widerstandszellen ein Ziel haben: Rebellion im Lager. Pilecki baut nach und nach einzelne kleine Gruppen auf, die nichts voneinander wissen, damit sie die Gefahr entdeckt zu werden einschränken. Wir folgen Pilecki in seiner Ankunft im Lager. Bei seiner Fahrt ohne Nahrung und Trinken. Bei der Ankunft, bei der alle Menschen wie Vieh behandelt werden. Bei dem Alltag im Lager, der geprägt ist vom militärischen Drill, Ermordungen der Insassen, die auch nur ein Anzeichen von Fehlern oder Langsamkeit zeigen, der Kälte, Mangelernährung und Folter aller Menschen seiner Umgebung. An diesem grausamen Ort beginnt Pilecki umgehend Gespräche mit Einzelnen und schafft es sogar, Mitglieder seines Netzwerks in Schlüsselpositionen zu bringen. Dies stellt den Startpunkt seiner Netzwerkarbeit dar, die alle Leser*innen in den Bann ziehen, weil Panel für Panel, Seite für Seite die Gefahr durch Folter und Erschießung droht. Wir folgen Pilecki in einer nervenaufreibenden Widerstandsgeschichte, bei der wir um sein Leben bangen.
Die Aquarell- und Buntstift-Zeichnungen des französischen Zeichners Geatan Nocq schaffen es in bemerkenswerter Weise das Grauen des Lageralltags in weichen monochromen Bildern wirken zu lassen. Die Landschaften, Baracken, Hintergründe und Architekturen schaffen eine Authentizität des Schreckens in der sich die blas gezeichneten Menschen bewegen.
Der Anhang enthält eine ausführliche Darstellung der Historikerin Isabelle Davion, die die Entstehungsgeschichte, eine kurze Biographie und die Erarbeitung bis zur Graphic Novel erläutert. Zudem sind einzelne Bilder aus dem originalen Rapport von Witold Pilecki abgebildet und von Zeichnungen aus dem Skizzenbuch von Geatan Nocq begleitet. Letztere hat Er während einer Reise zum Vernichtungslager angefertigt. Der 264 Seiten starke Hardcoverband – mit kräftigem und hochwertigem Papier, die die flächigen Zeichnungen atmosphärisch zur Geltung bringen- ist im Splitter Verlag erschienen und bietet einen historischen Zugang zu einer Biographie, die die Leserschaft die Emotionen des Protagonisten verschlingen lässt. Ein solcher Band zeigt nicht nur die vielfältigen Zugänge zu historischen Graphic Novels, in denen auch Biographien wie diese einmaligen, zurecht neuen Einblicke ermöglichen. Er zeigt, dass Erinnerungskultur lange noch nicht vollständig erschlossen ist, vor allem dadurch, dass die Grundlage des Rapportes erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aus den Osteuropäischen Staaten möglich war, da die Berichte zurückgehalten wurden. Bei der Thematisierung der NS-Zeit sind einzelne Auszüge des Bandes auch im Schulunterricht vor allem durch den exzellenten biographischen Zugang denkbar. Der Band zeigt auch wie ausgezeichnet Graphic Novels unter wissenschaftlicher Begleitung umgesetzt werden können, da Geatan Nocq durch die Beratung von Isabelle Davion nüchterne historische Berichterstattungen in ein düsteres Stimmungsbild überführt, welches die Atmosphäre dicht und die Gefühle der mutigen Männer für die Lesenden nachvollziehbar macht. Durch diesen hervorragenden Graphic Novel wird auch im Westen mehr Interesse geweckt, den Originalbericht Pileckis zu entdecken. Gaetan Nocqs Adaption ist dabei keine bloße Bebilderung der nüchtern erzählten Fakten, sondern ein nicht wegzudenkender Beitrag zur Erschließung der Geschichten aus den Lagern. [1]
[1] Seit Januar 2022 hat eine Zweigstelle des in Warschau ansässigen Pilecki-Instituts eröffnet, die eine Dauerausstellung zum Leben und Wirken von Witold Pilecki zeigt.
RAPPORT W: Freiwillig als Häftling in Auschwitz, Autor & Künstler: Gaétan Nocq, 264 Seiten, Hardcover, 35,00 Euro, Erschienen im SPLITTER VERLAG