In einer Welt, in der die „Geister“ verstorbener Menschen sichtbar wie ein leuchtendes, stummes Mahnmahl am Ort ihres Todes verbleiben, suchen Rain und ihre Schwester nach genau diesen Spuren ihrer Eltern. Die beiden waren an Bord eines Flugzeugs, das in vor ein paar Jahren in der spanischen Wüste abstürzte. Doch sie finden viel mehr als diese unheimlichen Echos ihrer Vergangenheit. Unter anderem Tyler, der ganz eigene Gründe hat, der Absturzursache auf den Grund zu gehen. Die Welt wird nun von immer mehr leuchtenden, angewurzelt stehenden oder schwebenenden Geistern bevölkert, deren gelegentliches Lächeln die sogenannten „Smile-Waves“ die umstehenden Menschen ebenfalls in die ewigen Jagdgründe schicken…
Nach Kai Meyers Kurzgeschichte „Das Fleisch der Vielen“ verwandelt Jurek Malottke nun einen ausgewachsenen Roman in einen stattliche 240 Seiten starken, bildgewaltigen Comic-Albtraum. Sein oft sehr reduzierter, malerischer Stil machte im stockdusteren „Fleisch der Vielen“ inhaltlich Sinn, da man am Ort der Handlung oft die Hand vor Augen nicht erkennen sollte. Die Reduktion simulierte hier großartig die schemenhafte Wahrnehmung in der Dunkelheit. Weite Teile von „Phantasmen“ liefern diesen organischen Grund nun nicht und so bleibt der oft fantastische, manchmal eben auch extrem, beinahe unkenntlich reduzierte Stil eine rein gestalterische Entscheidung, die man subjektiv mögen muss. Handwerklich gibt es da überhaupt nichts zu rütteln. Perspektive, Licht, die in den häufigen Action-Szenen so wichtige Dynamik – Malottkes beeindruckender Blick auf die Räumlichkeit und das natürliche Licht – All das ist atemberaubend gut.
Allerdings lebt die extrem originelle und spannende Geschichte sehr vom emotionalen Austausch ihrer Protagonisten. Die große Schwäche von „Phantasmen“ ist, dass dieser sich meist erahnen lassen muss. Denn nicht nur die Gesichter der handelnden Personen sind in der Nahaufnahme oft so reduziert, dass ihre Gesichtszüge nur schwer zu erkennen sind. Auf innere Monologe oder Gedankenblasen wird auch meist verzichtet. Das ist bei der sehr geschwätzigen jüngeren Schwester kein wirklich großes Problem. Aber die beiden anderen Charaktere, der geheimnisvolle Tyler oder die von einer fiesen Angststörung geplagte Rain sind beide eher schweigsame, introvertierte Charaktere, denen mehr wie auch immer erkennbarer Ausdruck im wahrsten Sinne des Wortes gut zu Gesicht gestanden hätte.
Wer über diese Schwäche hinwegsehen kann oder gar subjektiv eine atmosphärische Stärke darin sieht, wird im Gegenzug mit einer wirklich originellen, postapokalyptischen Story belohnt, die auch visuell wahnsinnig viele unvergessliche Momente wie das opulente Heim der Salazars oder das diabolische Grinsen großer Geisterhorden bereithält. Der visuelle Zugang ist aber ähnlich wie im ebenfalls bei Splitter erschienenem und brillantem „LOW“ beschwerlich und muss sich gefälligeren Sehgewohnheiten zum Trotz erarbeitet werden.
PHANTASMEN, Autor: Kai Meyer, Künstler: Jurek Malottke, 240 Seiten, Hardcover, 35,00 Euro, Erschienen im SPLITTER VERLAG