Auf den ersten Blick haben Norton und Fred nicht besonders viel gemeinsam. Während der psychisch kranke Norton davon besessen ist kleine Müllfragmente zu sammeln und zu archivieren, scheint Fred ein bestenfalls sehr angestrengtes Verhältnis zu seinem Arbeitgeber, der Kirche zu haben. Was die ungleichen Figuren eint, ist dass ihr Schicksal sie in der Kleinstadt Gideon Falls zusammenführt. Hier ereilen nicht nur sie selbst, sondern auch weitere Einwohner albtaumhafte, apokalyptische Visionen von einer furchteinflößenden, schwarzen Scheune. Schnell stellen sie fest, dass sich hinter der vermeintlichen Halluzination eigentlich eine entsetzliche Wahrheit verbirgt…
Willkommen in der Welt des kanadischen Star-Autoren Jeff Lemire, der in seinen Werken besonders gern lieb gewonnene Genrekonventionen der Comicwelt mit schrulliger Kleinstadtatmosphäre in den kreativen Kochtopf wirft. Nachdem der Splitter-Verlag sich bereits um die deutsche Veröffentlichung der ebenfalls dieser Gussform entnommenen, herausragenden Superheldensaga „Black Hammer“ kümmerte, sorgen die Bielefelder nun auch für eine übersetzte Fassung von Lemires Horror-Reihe „Gideon Falls“. Die beklemmende Atmosphäre des ersten Bandes weckst schnell den Anschein, dass man gut daran getan hat. Die fiebrige Suche nach der schwarzen Scheune und dem eigenen Verstand so fesselnd wie dicht erzählt und glänzt vor allem dadurch, dass sich Lemire und der italienische Künstler Andrea Sorrentino ganz offensichtlich sehr gut bei ihrer gemeinsamen Arbeit an großen Themen wie „Green Lantern“ und „Old Man Logan“ aufeinander einstimmen konnten. Kaleidoskopartig aufgefächerte Bildsequenzen geben völlig wortlos sehr überzeugende Einblicke in Szenen die ohnehin besser gefühlt als beschrieben werden könnten, die es in Filmen mit Kamerafahrten und akustischer Untermalung deutlich einfacher gehabt hätten und doch nun in gedruckter Form auf ganzer Linie überzeugen.
Sowohl inhaltliche als auch visuelle Vergleiche mit der in Deutschland bei Cross Cult erscheinenden Gruselreihe „Outcast“ aus der Feder von „Walking Dead“-Schöpfer Robert Kirkman scheinen vielleicht naheliegend, werden beiden erzählerisch sehr unterschiedlichen Reihen aber nicht gerecht. Wo die Exorzisten-Story von der Konkurrenz vor allem auf klassische Gruselmomente und im Schatten verborgenes Grauen setzt, nutzt Sorrentino seine fotorealistisch aufgebauten und dann extrem stilisierten Bilder vor allem für bizarre und originelle Visionen, die dem Leser ein glaubhaftes Bild vom in der Kleinstadt um sich greifenden Wahnsinn vermitteln.
Auch wenn Lemire dank ausgiebigem Aufbau seines „Bühnenbilds“ im ersten Band noch verhältnismäßig wenig Zeit und Mühe in seine große Stärke, die Charakterentwicklung investieren konnte, lässt die „Schwarze Scheune“ auf nicht weniger als eine neue Referenz in Sachen Gruselcomics hoffen.
GIDEON FALLS(Bd.1): Die schwarze Scheune, Autor: Jeff Lemire, Künstler: Andrea Sorrentino, 160 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro, Erschienen bei SPLITTER