Gleich bei seinem ersten humanitärem Einsatz für „Ärzte ohne Grenzen“ wird der junge französische Arzt Christophe André von tschetschenischen Separatisten verschleppt und monatelang unter menschenunwürdigen Voraussetzungen gefangen gehalten dam an ein Lösegeld für ihn erpressen will. Ohne einen Kontakt zur Außenwelt und ohne die sprachlichen Möglichkeiten mit den Tätern zu kommunizieren haben für Christophe der Erhalt seiner geistigen Gesundheit und die Bewahrung seines spärlichen Rests an Würde oberste Priorität…
Der für Comic-Reportagen wie den internationalen Erfolg „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ bekannte Kanadier Guy Delisle hat mit seiner neuen Graphic Novel „Geisel“ etwas ganz erstaunliches vollbracht. Obwohl etwa 90% der beeindruckenden 432 Comic-Seiten in Christophes wechselnden Verliesen spielen, sich im wesentlichen mit seinen persönlichen Gedanken und Spekulationen befassen ist „Geisel“ eine unverhofft fesselnde und intensive Lektüre. Wer sich eine intensive Auseinandersetzung mit der politischen Situation in Tschetschenien oder gar einen packenden Polit-Thriller in Grisham-Manier erhofft, der wird schnell eines Besseren belehrt. „Geisel“ ist vor allem das akribisch dokumentierte und eindrucksvoll authentisch geschilderte Seelenleben eines Gefangenen.
Das Schwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen aufkeimender Sympathie für und brodelnder Abscheu vor seinen Peinigern wird minutiös aufbereitet. Es ist bemerkenswert, wie es Delisle dabei gelingt, die zermürbende Anspannung und Ungewissheit seines Hauptprotagonisten auf den Leser zu übertragen, ohne dass sich die Erzählung dabei nennenswert wiederholen würde, ohne es sich leicht zu machen und die erdrückende Monotonie und Langeweile, die Christophe erleiden musste als einfach zu realisierendes Stilmittel zu missbrauchen und sich abschließend auf die Empathie seiner Leserschaft zu verlassen. Der elegant geführte Spannungsbogen verläuft fast ausschließlich über innere Monologe, über Ausbruchs- und Gewaltphantasien oder meditatives Gehirnjogging, bei dem Christophe historische Schlachten rekapituliert, eine persönliche Leidenschaft des Gefangenen. Trotz kaum vorhandener tatsächlicher Gewalt, ganz ohne schockierendes Spektakel gelingt Delisle abschließend trotzdem ein nervenaufreibendes und würdevolles Finale, dass wesentlich schneller erreicht ist, als man beim Anblick des gewaltigen Schmökers zuvor noch für möglich gehalten hätte.
GEISEL
Autor & Künstler: Guy Delisle
Nach Berichten von Christophe André
432 Seiten
Broschiertes Softcover
29,00 Euro
ERSCHIENEN BEI REPRODUKT