Das Elsass, 1944. Ein letztes Mal bäumen sich die Nazis auf, um die bevorstehende Niederlage gegen die Alliierten abzuwenden. Im ehemals französischen und nun dem dritten Reich angegliederten, malerischem Landstrich hat der erst siebzehn Jahre alte Marcel wie seine Freunde nur eine sehr trügerische Wahl. Wer dem Ruf der Waffen-SS nicht an die Front folgt und sich einziehen lässt, dessen Familie wird von den faschistischen Schergen terrorisiert und muss mit dem Schlimmsten rechnen. Jahrzehnte später muss Marcel nun als alter Mann einem Ermittlungsausschuss Rede und Antwort stehen, das Erlebte rekapitulieren. In wiefern hat er sich schuldig gemacht? Ist er ein Kriegsverbrecher oder selbst nur ein Opfer des Nazi-Regimes?
Gestalterisch präsentiert sich „Die Reise des Marcel Grob“ in typischer Graphic-Novel-Manier. Der versierte, naturalistische Strich von Künstler Goethals steht vor allem den stimmungsvollen Landschaftsbildern sehr gut, die genre-konform in warmen Sepia-Töne getaucht sind. Jedenfalls bei jenem Löwenanteil, der die Rückblicke in Marcels Zeit an der Front schildert, während das in der Gegenwart angesiedelte, als erzählerischer Rahmen dienende Verhör deutlich direkter, schärfer und kälter inszeniert ist. Beiden Perspektiven hätte allerdings eine deutlich höhere Bandbreite an Gesichtsausdrücken für die Protagonisten gut getan. Entsetztes Staunen ist sicher die klar vorherrschende Emotion in der Handlung, aber auch das könnte deutlich mehr Facetten zeigen.
Vielleicht ist dieses Versäumnis aber auch ein Segen, denn die Vermenschlichung, dass geschaffene Verständnis nicht nur für Marcel selbst, sondern auch für seinen sympathisch und feingeistig geschilderten Vorgesetzten wäre sonst wohl noch schwerer zu ertragen. „Die Reise des Marcel Grob“ leistet nicht zuletzt durch den ausführlichen und fundierten Sachanhang hervorragende Arbeit, wenn es darum geht, das Schicksal der Elsass-Jungen am Ende des zweiten Weltkriegs aufzuarbeiten, die Tragik und den Zwang ihrer Situation glaubhaft und nah zu schildern. Auch die chiffrierte Auflösung, wem gegenüber Marcel sich nun wie zu zu verantworten hat ist dezent und beweist Klasse. Die Urheber sollten sich dennoch die Frage gefallen lassen, ob es kein geschmackvolleres Timing für die Darlegung unbestrittener Opferstrukturen in den Reihen der Täter des zweiten Weltkriegs gibt, als eine Ära des erstarkenden Nationalismus, Antisemitismus und sogar der Holocaust-Leugnung.
DIE REISE DES MARCEL GROB Autor: Philippe Collin Künstler: Sébastien Goethals 192 Seiten Hardcover 29,80 Euro Erschienen bei SPLITTER]]>