Wir geraten immer mehr in ein Zeitalter, bei dem wir nach und nach Science-Fiction-Szenarien der Hoch- und Popkultur ein- und überholen. Das ikonische „1984“ haben wir schon vor sechsunddreißig Jahren hinter uns gelassen. Allmählich spielen auch die damals so futuristischen Szenarien „Zurück in die Zukunft“ oder „Terminator 2“ faktisch in der Vergangenheit. Ein gutes Jahr für Dantes Verlag, der sich mehr und mehr zum Spezialisten für deftig-giftige Comicszenarien britischer Autoren mausert. Jetzt kann er Jamie Delanos „Zukunftsvisionen“ aus der Vertigo-Reihe „2020 Visions“ gewohnt liebevoll für den deutschen Markt aufbereiten.
Delano, vor allem bekannt als erster langfristiger Autor für „Hellblazer“, die Ursprungsreihe mit Dämonenjäger John Constantine schuf hier mit vier verschiedenen Künstlern je einen düster-abstoßenden Trip, den geneigte Comic-Conaisseure nun einem Gegenwarts-Check unterziehen können. Besonders das nicht zuletzt durch den großartigen Frank Quitely hervorstechende „Lebenslust“ wirkt dabei gruselig prophetisch. Zum Einen können Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker hier noch einmal genauer prüfen, wie weit wir eigentlich noch von der angemahnten Diktatur, von effektiver Unterdrückung entfernt sind. Zum Anderen zeigt die deutlich stärkere der beiden Stories aber auch, wohin uns Isolation, Egoismus und Fundamentalismus treiben könnten, wenn Pandemien wirklich schaffen, unseren Alltag noch viel langfristiger zu bestimmen. Beide Szenarien arbeiten, ganz nach alter, britischer Comic-Schule mit extremen Überspitzungen, Ekel, Perversionen, mit dem Tiefsseefischen in menschlichen Abgründen. Und obwohl sozialkritische Komponenten deutlich erkennbar sind, bestimmen die Schock-Elemente hier ganz klar den Ton.
„2020 Visions“ ist roher, früher Punkrock als Comic. Räudig, schmutzig, politisch durchgehend inkorrekt und handwerklich gerade eben so solide, wie die Message „direkt ins Gesicht“ es braucht. Das ist kein bisschen despektierlich gemeint und klammert Zeichner Quitely ganz klar aus, der sein Genie im vor ekelerregend fein schraffierten Details triefendem Bildwerk einfach nicht verstecken kann. Auch wenn Warren Pleece mit seinen Bildern daneben nur verblassen kann, liegt es nicht nur an ihm, dass „La Tormenta“, die zweite Hälfte dieses ersten von zwei Bänden zwar stimmig ins Konzept passt, aber stark abfällt. Der Exploitation-Noir-Krimi mit Crossdressing-Hauptakteurin im dystopischen Südamerika ist einfach nicht so stimmig auf den Punk(t) gebracht, wie der extrem trippige Einstieg.
Sehr derbe Kost mit sozialkritischen Untertönen, die aber scheinbar vor allem schockieren und intelligent-abgründig unterhalten möchte. Und das macht „2020 Visions“ gut.
2020 VISIONS: Lebensgier & La Tormenta (Bd.1), Autor: Jamie Delano, Künstler: Frank Quitely, Warren Pleece, Marco Failla, 156 Seiten, Hardcover, 22,00 Euro, Erschienen im DANTES VERLAG